Jōhatsu - Die Verschwundenen in Japan: Ein Einblick in das Phänomen
Jōhatsu – die japanischen „Verschwundenen“ - Jedes Jahr verschwinden fast 100.000 Menschen in Japan freiwillig spurlos. Ein bemerkenswertes und weitgehend verborgenes Phänomen, bekannt als Jōhatsu (蒸発), das wörtlich "Verdampfen" bedeutet.
Diese Menschen werden als Jōhatsu oder "die Verdunsteten" bezeichnet. Sie verlassen ihre bisherigen Leben, lassen Familie, Freunde und Arbeit hinter sich und tauchen in eine neue Existenz ein, oft ohne jede Spur zu hinterlassen. Aber warum entscheiden sich so viele Menschen in Japan für dieses radikale Verschwinden? Wie schaffen diese Menschen es, eine unsichtbare, unauffindbare Existenz in einer der technologisch fortschrittlichsten Nationen der Erde zu führen?
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Die gesellschaftlichen Anforderungen an beruflichem Erfolg sind in Japan besonders hoch.
Foto © Redd F auf Unsplash
Gründe für das Verschwinden der Jōhatsu
Lange Zeit lebten die Johatsu versteckt und komplett isoliert. In den letzten Jahren gelang es einigen Journalisten und Bloggern mit den Verschwundenen Kontakt aufzunehmen und das Schweigen zu brechen.
Die Betroffenen werden aus unterschiedlichen Gründen zu Jōhatsu. Die Hauptgründe sind zwar nicht immer spezifisch japanisch, verstärken sich aber oft durch die teilweise stark tabuisierte Mentalität der Japaner:
- Schulden: Viele Menschen sehen keinen Ausweg mehr aus ihrer finanziellen Notlage. Mehr als zwei Millionen Japaner gelten als überschuldet oder bankrott. Hohe Zinsen und die Scham über finanzielle Probleme treiben viele Japaner nicht nur in den Selbstmord, sondern auch dazu, ihr bisheriges Leben aufzugeben und zu verschwinden.
- Arbeitslosigkeit: Der Verlust des Arbeitsplatzes wird in Japan oft als persönliches Versagen angesehen, was zu großer Scham führen kann. In Zeiten wirtschaftlicher Rezessionen wie 1989 und 2008 nahm die Zahl der Jōhatsu stark zu.
- Beziehungsprobleme: Noch immer ist eine Scheidung in Japan mit einer gewissen gesellschaftlichen Schande verbunden. Auch aus diesem Grund verschwinden häufig Personen aus dysfunktionalen familiären Verhältnissen. Es gibt in Japan spezielle Agenturen, die dabei helfen, sicher und unauffindbar zu entkommen.
- Persönliche und gesellschaftliche Scham: Probleme wie berufliches oder akademisches Versagen oder andere soziale Misserfolge führen besonders in Japan dazu, dass Menschen den radikalen Schritt des Verschwindens wählen. Der gesellschaftliche Druck und die Erwartungen an den Einzelnen, wie etwa die Aufrechterhaltung eines bestimmten Images oder Standes, ist in Japan besonders hoch.
Wie geht man in Japan mit dem Phänomen der Verschwunden um?
Für die zurückgelassenen Familienmitglieder ist es in Japan sehr schwer, über die Situation zu sprechen. Obwohl das Thema in der Gesellschaft bekannt ist, droht den „Hinterbliebenen“ der Verlust des gesellschaftlichen Ansehens. Der Umgang mit dem Thema ist überaus schamvoll und komplett tabuisiert.
Das Wort Jouhatsu ist sozusagen ein Ventil, das es den Japanern ermöglicht, sich über dieses unaussprechliche Problem in ihrer Kultur auszutauschen.
Das japanische Unterstützungs-Netzwerk für Jōhatsu: Yonige-ya
Um den Jōhatsu zu helfen, haben sich in Japan sogenannte Yonige-ya (wörtlich „Nachtumzugsfirmen“) etabliert. Diese Firmen bieten umfassende Dienstleistungen an, um Menschen beim Verschwinden zu unterstützen.
Sie organisieren heimliche Umzüge, ändern Identitäten und hinterlassen falsche Spuren, die es fast unmöglich zu machen, die Verschwundenen aufzuspüren. Die Kosten für solche Dienste variieren stark, abhängig von der Komplexität des Falls und den individuellen Anforderungen.
Das Leben der Jōhatsu nach dem Verschwinden
Viele der Jōhatsu finden Zuflucht in bestimmten Stadtteilen wie San’ya in Tokio oder Kamagasaki in Osaka. Diese Gegenden sind bekannt dafür, dass sie Menschen aufnehmen, die ohne offizielle Papiere und Identitäten leben.
Oft sind diese Viertel von Armut und prekären Lebensbedingungen geprägt – eher selten zu finden in der japanischen Gesellschaft. Die einzige Möglichkeit, sich finanziell über Wasser zu halten, besteht in schlecht bezahlten Tagesjobs, oft bei der Yakuza, der japanischen Mafia.
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Obdachlosen-Plätze im Tamahime-Park in Tokios „Tagelöhner-Bezirk“ San’ya, ein Rückzugsort für viele Jōhatsu.
Foto © Kounosu - Own work, CC BY-SA 3.0
Dokumentation und Aufklärung über die Verschwundenen
Das Thema Jōhatsu hat auch internationale Aufmerksamkeit erregt. Der deutsch-japanische Dokumentarfilm "Johatsu - Into Thin Air" von Andreas Hartmann und Arata Mori bietet einen tiefen Einblick in die Welt der Jōhatsu.
Der Film untersucht die Beweggründe der Menschen, die verschwinden, und beleuchtet die Herausforderungen und Konflikte, mit denen sowohl die Verschwundenen als auch ihre zurückgelassenen Familien konfrontiert sind.
Schlussgedanken
Das Phänomen der Jōhatsu zeigt die dunkle Seite der modernen japanischen Gesellschaft. Es wirft Fragen vor allem über die gesellschaftlichen Strukturen auf, die Menschen dazu treiben, ihr bisheriges Leben aufzugeben und in die Anonymität zu fliehen. Während einige im neuen Leben einen Neuanfang suchen, bleibt für viele die Existenz in der Schattenwelt von Unsicherheit und Schwierigkeiten geprägt.
Für weitere Einblicke in dieses faszinierende Thema und die Geschichten der Verschwundenen empfehlen wir das Buch "The Vanished: The ‘Evaporated People’ of Japan in Stories and Photographs" von Léna Mauger und natürlich den erwähnten Dokumentarfilm.
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