Inemuri – die japanische Kunst des „strategischen Schlafes“
Schlafen ist gesund. Idealerweise schläft man den Angaben von Wissenschaftlern nach zwischen sieben und neun Stunden am Tag – so werden die nötigen Langzeiterinnerungen angelegt und wichtige Prozesse im Körper angestoßen. Dabei muss man allerdings nicht unbedingt am Stück schlafen, wie es bei uns im „Westen“ als normal angesehen wird.
Insbesondere im asiatischen Raum und in Indien sind so genannte polyphasische Schlafrhythmen, bei denen zum Schlaf in der Nacht kurze Schlafphasen während des Tages hinzukommen, traditionell nachzuweisen.
Japan hat, wie die meisten asiatischen Länder, inzwischen ansonsten die europäische Angewohnheit des monophasischen Schlafs in der Nacht angenommen. Hier entwickelte sich so das so genannte Inemuri (居眠り), was sich in etwa als „anwesend sein und schlafen“ übersetzen lässt.
Inemuri sieht man in Japan überall – am Arbeitsplatz, in der U-Bahn, auf einer Parkbank. Inemuri ist gesellschaftlich durchaus hoch angesehen, zeigt es doch den Einsatz und die Erschöpfung eines Menschen, der sich voll für seine Aufgaben einsetzt.
- Die Japaner nutzen jede freie Minute für ein Power-Napping.- Bild: © metamorworks - Stocks.Adobe.com
Inzwischen wird in Japan, das internationalen Studien zufolge als das Land mit der kürzesten durchschnittlichen Schlafzeit pro Nacht gilt, auch öffentlich für mehr Schlaf geworben.
Inemuri ist in nicht wenigen größeren Unternehmen ein erwünschtes Verhalten. Sogar Schüler werden inzwischen zu einem kurzen Mittagsschlaf angehalten.
Vorteile des Inemuri für Gesundheit & Leistungsfähigkeit
Das japanische Inemuri ist in etwa vergleichbar mit dem in den letzten Jahren auch bei uns beliebt gewordenen Power-Nap, für den manche Firmen inzwischen sogar eigene Räume bereitstellen.
Ein kurzer Schlaf zwischendurch, meist wird eine Länge von 20 Minuten empfohlen. Längere Schlafphasen während des Tages sind nicht empfehlenswert, da dann in tiefere Schlafphasen gewechselt wird und der Schlafende fühlt sich anschließend häufig noch müder als zuvor.
Ein Power-Nap hat viele Vorteile:
- eine Steigerung der Leistungsfähigkeit;
- Stärkung des Kurzzeitgedächtnisses;
- Vorbeugung von Erschöpfungszuständen;
- wirkt tendenziell stimmungsaufhellend, Serotonin-Level im Blut steigt
- kann vor Herzerkrankungen schützen bzw. das Herzinfarktrisiko senken
- kann beim Abnehmen und gesunder Ernährung helfen – wer ausgeschlafen ist, hat meist weniger Appetit auf fettige und süße Lebensmittel
Wer regelmäßig einen Mittagsschlaf macht – denn zu wenig Schlaf bekommen wir heute oft auch hierzulande – der befindet sich übrigens in bester Gesellschaft. Bekannte historische „Power Napper“ waren Persönlichkeiten wie Napoleon, Churchill, Einstein und Thomas Edison.
Inemuri als Kulturtechnik
- Mit Inemuri schützen sich die Japaner auch vor zu viel menschlichem Kontakt oder unangenehmen Situationen. - Bild: © Monet - Stocks.Adobe.com
Die Kulturtechnik Inemuri entwickelte sich in Japan aus den traditionellen, polyphasischen Schlafrhythmen der Landbevölkerung. Gründe liegen aber auch in der Enge, die auf den japanischen Inseln insbesondere in den großen Städten herrscht.
In Tokio wohnen nicht selten junge Menschen als Paar auf kaum mehr als 10 oder 14 Quadratmetern. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind chronisch überfüllt, Menschenmengen immer und überall.
Hier sind Strategien der Abschottung, einhergehend mit einer großen Wertschätzung von Regeln, Rücksichtnahme und sozialer Verantwortung, fast schon überlebenswichtig.
Während sich Inemuri, also das Schlafen in einer unruhigen Umgebung, wie es in Japan schon Kleinkinder lernen, durchaus trainieren lässt, löst Inemuri in der japanischen Form – also mitten im Büro, auf der Party oder in der U-Bahn – bei uns immer noch Befremden aus.
- Taktisches Inemuri - Vorsicht bei einem vermeintlich schlafenden Chef. - Bild: © Paylessimages - Stocks.Adobe.com
Hier bräuchte es im Westen ein deutliches Umdenken, um dem so gesunden wie sinnvollen Kurzschlaf zum Durchbruch zu verhelfen.
Inemuri als Kulturtechnik hat aber neben dem Schlafen noch einen zweiten, häufig übersehenen Aspekt. Der Kurzschlaf wird auch häufig vorgetäuscht, um sich – wie hinter einem Schutzschild – von der Umgebung abgeschottet vor unangenehmen oder problematischen Situationen zu schützen.
Besonders pikant: nur japanische Chefs haben das Recht, auch auf Sitzungen dem Inemuri zu frönen. Oft schützen sie den Kurz-Schlaf aber nur vor, um ihren Untergebenen zuzuhören und deren ungefilterte Meinung zu hören, die nicht durch den Respekt vor dem Vorgesetzten eingefärbt ist.
Unterschiede bei japanischen Männern & Frauen
Auch zwischen Männern und Frauen gibt es einige Unterschiede. Letztere gehen insbesondere in der Öffentlichkeit außerhalb bekannter Räume wie dem Büro, indem man arbeitet, deutlich vorsichtiger mit dem Inemuri um und nutzen gerne einen Hut oder einen Schleier, hinter dem sie sich verstecken.
Zudem versuchen sie natürlich möglichst zu vermeiden, ihre Beine unkontrolliert im Schlaf zu öffnen. Ganz allgemein, so kann man sagen, ist das Vertrauen japanischer Frauen in ihre Umgebung in der Öffentlichkeit aus gutem Grund nicht sehr groß. Inzwischen gibt es in der Tokioter U-Bahn sogar extra Frauenabteile, da Grapscher, die in Japan leider kein seltenes Phänomen sind, in den überfüllten Abteilen oft unerkannt bleiben.
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